Das war die Pfaffenhofener Lesebühne 2025
24. November 2025
Mit fünf weiteren Veranstaltungen startete die Lesebühne am vergangenen Mittwoch erfolgreich in ihre zweite Runde. Neben der Abschlusslesung des Lutz-Stipendiums erwartete Literaturbegeisterte ein vielfältiges Programm mit Auftritten von Didi Dobra, Lena Schätte, Julia Engelmann und Andreas Pflüger. Den Abschluss der diesjährigen Lesebühne bildete der ZEIT-Redakteur Henning Sußebach, der mit seinem Spiegel-Bestseller „Anna oder: was von einem Leben bleibt“ eindrucksvoll das Publikum begeisterte.
Töchter und Väter
Unter dem Motto „Töchter und Väter“ startete am Mittwochabend der zweite Teil der Lesebühne. Im Mittelpunkt standen zwei erzählerisch wie thematisch eindrucksvolle Bücher: Lena Schätte schildert in ihrem autofiktionalen Roman eine Kindheit mit einem alkoholkranken Vater, während Didi Drobna in ihrem autobiografischen Werk von ihrem Aufwachsen als „eldest immigrant daughter“ (älteste Immigrantentochter) einer slowakischen Migrantenfamilie in Wien berichtet, die bereits im Alter von sechs Jahren als Dolmetscherin viel Verantwortung für die gesamte Familie übernahm.
Durch den Abend führte Dorle Kopetzky, die in den Gesprächen präzise die Parallelen und Unterschiede der beiden Werke herausarbeitete. In beiden Büchern prägen Mütter ihre Töchter mit eindringlichen Leitsätzen: Schättes Protagonistin Motte lernt, dass „Schnaps Ärger bedeutet und Frauen Fluchtgeld brauchen“, während Drobna mit dem Satz „Wir springen nicht hoch, wir wollen nicht viel“ aufwächst – ein Ausdruck des Bemühens, nicht aufzufallen, um die Aufenthaltsgenehmigung der Familie nicht zu gefährden.
Beide Autorinnen betonten, wie viel Zeit es gebraucht habe, diese persönlichen Geschichten literarisch zu fassen. Schätte habe zunächst gezögert, sich einem gesellschaftlich sensiblen Thema wie Alkoholismus zuzuwenden und die passende Sprache dafür zu finden. Ihre Figur Motte erzählt ohne Vorwürfe und ohne ein Opfer-Täter-Schema zu bedienen. Schätte verwies darauf, dass Alkoholabhängigkeit häufig mit psychischen Erkrankungen und Traumata einhergeht und familiäre Realität oft von Gleichzeitigkeit geprägt ist: Freude und Liebe existieren neben Schmerz, Überforderung und bisweilen Gewalt. Auch Drobna berichtete, dass es Mut erfordert habe, die eigene Geschichte offenzulegen. Sie habe Zeit gebraucht, um persönliche Erfahrungen aufzuarbeiten und literarisch reif zu werden. Über das eigene Leben und die eigene Familie zu schreiben, sei immer mit emotionalen Risiken verbunden. Jahrelang hatte sie keinen Kontakt zu ihrem Vater; als junge Autorin, so Drobna, hätte ihr zudem noch das notwendige handwerkliche Rüstzeug gefehlt, über das sie jetzt verfüge.
Einen Einblick in die Geheimdienstwelt mit „Kälter“
Steffen Kopetzky moderierte den Abend mit Andreas Pflüger und gemeinsam nahmen sie das Publikum mit in den Prozess des literarischen Schreibens: Von der Ideenfindung über Korrekturen und Satz bis hin zur Veröffentlichung eines Buches. Das Besondere bei Pflüger – er setzt seine Romane komplett selbst. Im Gespräch zwischen Kopetzky und Pflüger wird sowohl ihr freundschaftliches Verhältnis als auch die gegenseitige Wertschätzung im Bezug auf ihr literarisches Schaffen deutlich.
Pflügers aktueller Kriminalroman „Kälter“ spielt im historischen Kontext des Mauerfalls in Berlin 1989. Die Protagonistin Luzy Morgenroth wird unvermittelt aus ihrem Alltag als Dorfpolizistin auf Amrum herausgerissen und stößt bei der Jagd nach dem Terroristen „Babel“ auf Verbindungen zu der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz durch die RAF. „Kälter“ zeigt eine Welt, in der Geheimdienste die Fäden ziehen und Menschen oft nur Spielbälle ihrer Entscheidungen sind. Mit sicherem Gespür balanciert Pflüger historische Fakten, spannende Einblicke hinter die Kulissen des Literaturbetriebs und pointiert-humorvolle Lesepassagen.
Ein neuer „Zwischenfall“ über Pfaffenhofen
Bei der Abschlusslesung des diesjährigen Lutz-Stipendiums stellt Paula van Well den in Pfaffenhofen entstandenen „Zwischenfall“ über die Kreisstadt sowie Ausschnitte aus den eigenen Werken vor, die während des Aufenthalts im Flaschlturm erarbeitet wurden. Nach der Begrüßung durch Bürgermeister Thomas Herker, führte Kulturreferent Reinhard Haiplik zu Beginn in die Geschichte des Lutz-Stipendiums ein und erzählte über den Schriftsteller Joseph Maria Lutz und seinen Roman „Der Zwischenfall“. Er betonte die Wichtigkeit des Lutz-Stipendiums für die kulturelle Landschaft in Pfaffenhofen. Juryvorsitzender Steffen Kopetzky führte durch den Abend und sprach mit van Well über das eigene Werk, das von „Gewalt in der Ehe“ handelt und zeitlich zwischen den 80er Jahren in Wien und der Gegenwart in Berlin spielt.
Im „Zwischenfall“ über Pfaffenhofen präsentierte van Well gleich 25 „Zwischenfälle“, 25 als Miniaturen angelegte Kurztexte. Sie ließ drei Charaktere aus ihrem aktuellen Romanprojekt die Kreisstadt besuchen. Aus ihrer außerstädtischen teils queeren Perspektive bewegen sie sich zwischen Gerolsbach, Hauptplatz und Volksfest und blicken auf bayerische Bräuche wie Tracht und die Codes der Dirndlschleife, auf aktuelle Stadtthemen wie die Leinenpflicht für Hunde am Gerolsbach, die Schönheit der Flusstäler oder die Merkwürdigkeit des Steinhebens nachdenken. Der Zwischenfall besticht durch eine genaue und lakonische Sprache sowie die besondere Perspektive der Romanfiguren auf Pfaffenhofen. Es entsteht genau das, was sich die Stadt erhofft: van Well hält die Pfaffenhofener Gegenwart literarisch fest.
Himmel ohne Ende – Julia Engelmann zu Gast in Pfaffenhofen
Am Samstagabend präsentierte Julia Engelmann vor ausverkauftem Festsaal ihren Debütroman „Himmel ohne Ende“. Bernhard Heckler, Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung führte sympathisch und kenntnisreich durch den Abend und arbeitete im Gespräch mit der Autorin klug die Parallelen und Unterschiede zwischen Engelmanns eigener Lebenswelt und den Gefühlen, Erfahrungen und Persönlichkeiten der Romanfiguren heraus. Gemeinsam sprachen die beiden über Freundschaft, Familie, Erwachsenwerden, Stille und Hoffnung, Themen, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen.
Die Handschrift der Schauspielerin und Poetry-Slammerin war unverkennbar: Engelmann trug zum Erstaunen des Publikums all ihre Lesepassagen auswendig vor, so rhythmisiert und lebendig als würde sie den Roman in diesem Moment entwerfen. Die Zuschauer dankten ihr für diese einzigartige Performance mit begeistertem Szenen-Applaus. Die Geschichte der 15-jährigen stillen Teenagerin Charlie, deren einziger Freund lange ihr Meerschweinchen Markus bleibt, bis Kornelius, genannt „Pommes“ auftaucht, bot das ganze Spektrum an Gefühlen und brachte das Publikum auch immer wieder zum Lachen. Heckler betonte gegen Ende den sagenhaften Erfolg von Julia Engelmann, die mit ihrem Roman alle Altersgruppen erreiche, mit einer verschmitzten Frage zum Scheitern der Autorin, das es ja wohl auch gegeben haben müsse. Die gebürtige Elmshornerin stieg gern darauf ein, und beichtete, dass sie nicht nur ihr Psychologie-Studium nicht abgeschlossen habe, sondern es auch nicht geschafft habe, eine Stelle in einem Café zu ergattern. Zum Abschluss trug Engelmann, natürlich ebenfalls auswendig, ihr bemerkenswertes Langgedicht „Eines Tages, Baby“ vor, mit dem sie als 20-Jährige beim Bielefelder Poetry-Slam ihren Durchbruch hatte. Beim Signieren am Büchertisch nahm sie sich noch über 45 Minuten Zeit für persönliche Gespräche und Selfies mit ihren zahlreichen Fans.
Abschlusslesung mit Henning Sußebach
Zur Abschlusslesung der diesjährigen Lesebühne begrüßte Dorle Kopetzky den ZEIT-Redakteur Henning Sußebach, der seinen Roman „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ vorstellte. Sußebach nahm das Publikum im nahezu voll besetzten Festsaal mit in die Welt seiner Urgroßmutter Anna und gestaltete seine Lesung teils interaktiv: Er stellte Fragen, suchte das direkte Gespräch und ließ die Zuhörerinnen und Zuhörer selbst entscheiden, wie viel er vom weiteren Verlauf des Buches preisgeben sollte. Dabei zog er eindrückliche Parallelen zwischen Annas Lebenszeit – von 1866 bis 1932 – und der Gegenwart, insbesondere im Hinblick auf Selbstinszenierung, das Festhalten von Erinnerungen und den jeweils zeittypischen Blick auf die Vergangenheit. Zudem gewährte Sußebach spannende Einblicke in seine Recherchearbeit. Der Autor zeigte Fotos aus Annas Dorf Cobbenrode, das Werbeplakat der einflussreichen Familie Vogelheim, die das merkantile Zentrum des Dorfes bildete und den verschlüsselten Poesiealbumeintrag ihres ersten Mannes Clemens Vogelheim, ihrer großen Liebe, auf den die mittellose Lehrerin zwölf Jahre warten musste. Sußebach erläuterte gesellschaftliche Regeln der Zeit, etwa das damalige Zölibat für Lehrerinnen, und verwies auf weltweite historische Ereignisse wie die Erfindung des Fahrrads, des Telefons oder den Druck des ersten Comics. So entstand ein facettenreiches Bild einer Epoche, das Sußebach mit erzählerischer Sensibilität in die Gegenwart übersetzte. Das Interesse, mit dem Autor noch beim Signieren ins Gespräch zu kommen war groß.
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